DAS PARADOX DES FÜHLENS

7/26/20252 min read

Das Paradox des Fühlens

Es klingt wie ein Widerspruch, und vielleicht ist es genau das: zu viel fühlen und gleichzeitig zu wenig. Emotional überschwemmt sein bei Kleinigkeiten – ein Lied, ein Blick, ein Werbespot – und dann wieder innerlich trocken bleiben, wenn es eigentlich zählen würde. Viele kennen dieses Paradox, sprechen aber nicht darüber, weil unsere Gesellschaft ein sehr klares Drehbuch für Emotionen schreibt: Gefühle sollen messbar, erklärbar, kontrollierbar sein.

Doch das Leben hält sich selten an Drehbücher.

Die Erwartung des Eindeutigen

„Wie geht’s dir?“ – es ist die Standardfrage, auf die es gesellschaftlich nur eine Handvoll gültiger Antworten gibt: „Gut“, „Ganz okay“, vielleicht „Stressig“. Wer mit „Ich weiß es nicht“ antwortet, bricht den Code. Denn in einer Welt, die Effizienz liebt, ist das Unklare, das Widersprüchliche schwer auszuhalten.

Dabei ist genau das unser Normalzustand: Wir fühlen nicht linear, nicht berechenbar. Wir schwanken. Zwischen emotionaler Flut und innerer Leere. Zwischen Herzflimmern und Funkstille. Und genau dieses Schwanken ist kein Defekt – sondern zutiefst menschlich.

Psychologie der Ambivalenz

Die Psychologie kennt Begriffe dafür: Alexithymie, wenn Gefühle schwer zu benennen sind. Oder das Hochsensible, wenn jede Regung des Alltags wie ein Erdbeben durchs Innere zieht. Doch jenseits von Diagnosen ist es vor allem eins: ein Hinweis darauf, dass unsere Innenwelt komplexer ist, als es gesellschaftliche Schablonen je erlauben.

Philosophen wie Kierkegaard haben die Ambivalenz des Fühlens als Grundzustand des Daseins beschrieben: Das Leben oszilliert zwischen Fülle und Leere, zwischen Lachen und Tränen – und unsere Aufgabe ist nicht, das Schwanken zu beenden, sondern es zu ertragen.

Das Missverständnis der Stärke

Wir leben in einer Kultur, die „funktionieren“ zum höchsten Wert erklärt. Wer weint, entschuldigt sich. Wer nicht sofort erklären kann, was er fühlt, gilt als „kompliziert“. Doch das Bedürfnis, alles sofort benennen zu müssen, nimmt dem Gefühl seine Würde. Gefühle sind keine Excel-Spalten, die man sortiert. Sie sind Chaos, Widerspruch, manchmal auch Stille. Und gerade das macht sie echt.

Vielleicht reicht es

Vielleicht ist es das Befreiendste überhaupt: sich einzugestehen, dass es keine „richtige“ Art zu fühlen gibt. Dass Überforderung genauso real ist wie Euphorie. Dass ein leerer Blick nicht weniger wert ist als ein voller.

Denn die Wahrheit ist: Auch im Schwanken sind wir authentisch. Auch wenn wir uns fremd in uns selbst fühlen, sind wir nicht kaputt. Chaos bedeutet nicht Fehler – es bedeutet Leben.

Und am Ende bleibt vielleicht genau das: Ich fühl zu viel und zu wenig zugleich. Aber ich fühl. Und das reicht.