Die Vermessung der Gefühle

Eine Kolumne über die Überempfindlichkeit als Lebenskunst

10/5/20252 min read

Welcome to the age of emotional overexposure.

Everything must be felt now – louder, deeper, digitaler.

Gefühle haben keine Privatsphäre mehr, sie haben Profile. Likes als Währung, Nervenzusammenbrüche als Content. Zwischen Burnout und Be Real verschwimmt die Grenze zwischen Empathie und Erschöpfung.

Es gibt Menschen, die funktionieren wie empfindliche Messgeräte in einer Welt voller Störsignale. Sie empfangen zu viele Frequenzen, zu viele Zwischentöne, zu viele Emotionen, die gar nicht ihre eigenen sind. Ihr Inneres gleicht einem Radiosender ohne Rauschsperre – jede Regung anderer wird eingespeist, jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln, jede unausgesprochene Erwartung. Empathie, heißt es, sei ein Geschenk. Doch manchmal liegt dieses Geschenk schwer in der Hand – wie ein goldverpackter Stein.

Der moderne Mensch, besonders der feinfühlige, scheint in einem unsichtbaren Wettbewerb gefangen: Wer fühlt intensiver, wer reflektiert tiefer, wer leidet schöner? In diesem inneren Turnier führt das eigene Bewusstsein Buch – Spalte für Spalte, Zahl für Zahl – und am Ende verliert man trotzdem. Nicht, weil die Zahlen falsch wären, sondern weil das Bewertungssystem selbst absurd ist. Wie misst man Gefühl? In Millilitern Tränen? In Dezibel Selbstzweifel?

Die Tränen dieser Überfühlenden kennen keine Zwischentöne. Entweder sie bleiben verschlossen wie Banksafes an einem Sonntag – oder sie brechen hervor wie ein Staudamm nach zu viel Regen. Dazwischen: nichts. Kein kontrolliertes, gesellschaftlich akzeptables „Weinen light“. Nur Blackout oder Überflutung. Es ist, als hätte das Gefühlszentrum nie gelernt, dass auch halbe Gläser voll sein können.

Das Paradoxe: Je wichtiger etwas ist, desto weniger wird es gefühlt. Und das Nebensächliche? Entfacht ein inneres Feuerwerk. Eine beiläufige Nachricht kann die Seele erschüttern, während ein Abschied von existenzieller Tragweite kaum Wellen schlägt. Der innere Kompass scheint defekt – oder vielleicht nur: anders kalibriert.

Und dann ist da diese Sache mit der Anerkennung. Ein Hunger, der nicht nach Nahrung verlangt, sondern nach Bestätigung. „People Pleasing“ nennt man das, als wäre es ein Charakterfehler. Tatsächlich ist es oft ein Überlebensinstinkt. Wer die Schwingungen anderer ständig mitfühlt, wird süchtig nach Harmonie – nach dem stillen Versprechen: „Solange sie dich mögen, bist du sicher.“ Die Angst, ausgestoßen zu werden, wirkt urzeitlich, beinahe biologisch. Vielleicht ist sie das letzte Überbleibsel der Herde in uns.

Zwischen all dem Überschwang bleibt manchmal nur Leere. Kein heroischer Existenzialismus, keine poetische Schwermut – einfach Leere. Chronisch, zäh, still. Und doch besitzt sie eine seltsame Anziehungskraft. Denn sie ist das Einzige, was nicht zu viel ist. In einer Welt, die in Superlativen fühlt, wirkt die Abwesenheit von Gefühl wie ein seltener Luxus.

Vielleicht liegt gerade darin etwas Schönes. Diese Überempfindlichkeit, so erschöpfend sie sein mag, schenkt der Welt ihre Tiefe. Wer so fühlt, lebt in einem Farbspektrum, das anderen verborgen bleibt. Es ist, als sähe man die Welt durch eine alte Analogkamera: überbelichtet, unterbelichtet, nie korrekt – aber immer echt. Und am Ende sind es genau diese Bilder, die hängen bleiben. Unperfekt, flirrend, menschlich.

Denn vielleicht misst sich das Leben nicht in der Genauigkeit der Gefühle – sondern in ihrer Unberechenbarkeit