OFFEN LIEBEN – ODER SICH SELBST BELÜGEN?
8/17/20253 min read
OFFEN LIEBEN – ODER SICH SELBST BELÜGEN?
Eine Kolumne über den Charme, die Fallstricke und die stille Arbeit offener Beziehungen
Neulich saß ich mit einer Freundin in einer Bar. Rotweinflecken auf dem Holz, die Kerzen kurz vor dem Ausgehen. „Wir führen jetzt offen“, sagte sie beiläufig, als würde sie mir erzählen, dass sie angefangen hat, Yoga zu machen. Ihr Blick war fest, fast trotzig. „Wir sind erwachsen, wir vertrauen uns. Das wird uns nur stärker machen.“
Zwei Monate später lag sie auf meinem Sofa und weinte. Er war an einem Freitag nicht nach Hause gekommen. „Er hat’s mir gesagt“, schluchzte sie. „Aber trotzdem…“ Der Satz endete nicht. Manche Schmerzen sind selbst mit Genehmigung zu scharf.
Zwischen Theorie und Realität
Offene Beziehungen sind längst keine exotische Randerscheinung mehr. Dating-Apps, Podcasts und Feuilletons diskutieren sie wie selbstverständlich, und doch bleibt eine Frage offen: Wie funktioniert das in der Praxis – jenseits der schillernden Schlagzeilen und der Theorie vom „freien Herzen“?
In ihrer reinsten Form versprechen offene Beziehungen zweierlei: Freiheit und Ehrlichkeit. Freiheit, weil man nicht exklusiv sein muss, um verbunden zu bleiben. Ehrlichkeit, weil die Regeln nicht aus gesellschaftlichen Erwartungen entstehen, sondern aus gemeinsamen Entscheidungen. Es klingt modern, erwachsen, beinahe logisch – bis Gefühle ins Spiel kommen.
Die makellose Theorie
Die Theorie klingt bestechend: Liebe ist keine begrenzte Ressource, also warum sie monopolisieren? Mehr Ehrlichkeit, weniger Heimlichkeiten, keine Affären im Schatten. Wer könnte dagegen argumentieren? Doch Gefühle lassen sich nicht in Excel-Tabellen eintragen. Eifersucht ist kein Makel, sondern ein uraltes Alarmsystem. Sie zu spüren, heißt nicht, kleinlich zu sein – es heißt, Mensch zu sein.
Viele Paare, die „offen“ starten, merken zu spät, dass sie nicht Offenheit wollten, sondern Abwechslung. Oder, härter gesagt: Flucht. Psychotherapeut:innen warnen: Eine offene Beziehung verstärkt, was schon da ist. Wer in einer stabilen Partnerschaft lebt, kann durch sie wachsen. Wer auf wackligem Fundament steht, erlebt meist den endgültigen Einsturz.
Psychologie der Bindung
Die Psychologie zeigt: Unser Bindungssystem ist evolutionär auf Sicherheit programmiert. Studien wie die von Jessica Fern (Polysecure, 2020) belegen, dass offene Beziehungsmodelle nur dann stabil funktionieren, wenn die Beteiligten eine emotionale Hauptbasis haben. Wer diese Basis vernachlässigt, riskiert, dass Offenheit zum Synonym für Distanz wird.
Ich erinnere mich an ein Interview, was ich mal sah. Ein Mann lebte seit acht Jahren in einer offenen Ehe, glücklich, wie er sagte. „Der Trick“, meinte er, „ist, dass du zu Hause nie in Frage stellst, wer Nummer eins ist.“ Seine Frau saß daneben, nickte und lächelte. Das war der Moment, in dem ich verstand: Offenheit funktioniert nur, wenn das Fundament aus Beton ist. Wer auf Holzlatten steht, hört irgendwann das Knarzen.
Körper, Nähe, Ersatz
Der Knackpunkt liegt oft nicht im Körperlichen, sondern im Emotionalen. Viele können die Vorstellung akzeptieren, dass ihre Partnerin oder ihr Partner mit jemand anderem schläft – solange klar ist, dass die tiefste Nähe exklusiv bleibt. Es ist der Unterschied zwischen einem Abenteuer und einem Ersatz. Und dieser Unterschied muss aktiv gepflegt werden: durch Rituale, Verlässlichkeit und das unmissverständliche Gefühl, dass der Platz im Herzen nicht verhandelbar ist.
Vielleicht hilft ein einfaches Bild: Eine offene Beziehung ist wie eine Wohnung mit mehreren Türen. Wer dort lebt, kann Besuch empfangen, Gäste hereinlassen, Räume teilen. Aber es gibt immer ein Zimmer, zu dem nur zwei Schlüssel existieren – und diese beiden Schlüssel trägt man selbst und der Mensch, der das eigene Zuhause ist.
Offenheit als Handwerkskunst
Das bedeutet nicht, dass dieses Modell für jede und jeden passt. Es erfordert eine hohe Frustrationstoleranz, Selbstkenntnis und die Bereitschaft, mit den eigenen Unsicherheiten zu arbeiten. Vor allem aber verlangt es, dass Offenheit nicht als Ausweg dient, sondern als bewusste Wahl – eine Entscheidung für mehr Verbindung, nicht gegen sie.
Vielleicht ist das wie mit einem Haus mit vielen Türen: Man kann sie offenstehen lassen, Gäste hereinbitten, Räume teilen. Aber wenn das Schlafzimmer – das Herz der Beziehung – nicht mehr exklusiv ist, bleibt irgendwann nur noch ein Flur, den alle betreten dürfen.
Offenheit ist kein Lifestyle-Accessoire. Sie ist Handwerkskunst. Sie braucht präzise Absprachen, radikale Ehrlichkeit und ein stabiles Wir-Gefühl. Sie funktioniert nur, wenn man wirklich bereit ist, das zu geben, was am meisten kostet: Sicherheit.
Die eigentliche Frage
Die ehrliche Frage ist also nicht: Kann ich offen lieben?
Sondern: Kann ich teilen, ohne mich zu verlieren?
Vielleicht liegt genau darin die größte Herausforderung: Nicht nur bereit zu sein, jemanden „loszulassen“, sondern zugleich den Mut zu haben, sich selbst festzuhalten. Offen lieben bedeutet, sich permanent zwischen Freiheit und Bindung zu bewegen – zwischen der Sehnsucht nach Weite und dem Bedürfnis nach Sicherheit.
Es ist kein romantisches Ideal, sondern eine alltägliche Arbeit. Eine Praxis, die verlangt, immer wieder zu überprüfen: Wo stehe ich? Was brauche ich? Und was braucht das Wir?
Offene Liebe ist kein leichter Weg. Sie ist kein Rezept für moderne Beziehungen, sondern ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Aber gerade darin liegt vielleicht ihre Ehrlichkeit: Sie zwingt uns, nicht in Routinen zu flüchten, sondern uns selbst und den anderen immer wieder neu zu begegnen.
Am Ende bleibt also nicht nur die Frage: „Kann ich teilen?“
Sondern auch: „Kann ich aushalten, dass Liebe in vielen Formen echt sein kann – solange sie getragen wird von einem Fundament, das nicht verhandelbar ist?“
Offen lieben heißt, Vertrauen zu wagen. Und Vertrauen heißt immer, ein Risiko einzugehen.
Die entscheidende Frage ist deshalb weniger, ob offene Beziehungen funktionieren können – sondern ob wir bereit sind, die Arbeit, den Mut und die Verletzlichkeit aufzubringen, die sie erfordern.
Denn Offenheit ist kein Versprechen. Sie ist eine Entscheidung.